Blogpost von Anna Skenderoglou Leiter, die – Wortart: Substantiv, feminin – Ein Schritt nach dem anderen

Das European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC) Film Pitch Deck 2025 vereint nicht einfach nur Projekte, sondern Menschen. Was auf den ersten Blick wie eine schön gelayoutete Broschüre wirkt, steckt voller persönlicher Geschichten, Perspektivwechsel und mutiger Schritte entlang einer steilen Leiter. 

Wer hält die Leiter fest, wenn Stimmen nach oben wollen?  

Timea Junghaus ist Executive Director von ERIAC. Sie weiß, was es heißt, sich Schritt für Schritt nach oben zu arbeiten. Als Romni in Ungarn mit einem Abschluss in Kunstgeschichte hat sie schnell begonnen, für mehr Sichtbarkeit von Roma-Künstler:innen zu kämpfen. 2007 kuratierte sie den ersten Roma-Pavillon auf der Biennale von Venedig – ein Durchbruch für Roma-Kunst in der internationalen Szene. In den Jahren danach folgten zahlreiche Ausstellungen, Archive und Bildungsprogramme, immer mit dem Ziel, Räume zu schaffen, in denen Roma sich künstlerisch ausdrücken und selbst erzählen können. 

Leiter von Fotografen vor dem roten Teppich in Cannes

In ihrer Rolle als Direktorin von ERIAC ebnet sie seit 2017 anderen den Weg. Für sie ist klar: Roma-Filmschaffende verändern nicht nur das Bild, das andere von ihnen haben, sondern sie verändern die gesamte Kinolandschaft selbst. In ihren Worten sind es rohe, poetische Visionen von Schönheit, Widerstandskraft und Trotz, mit denen Roma im Film gängige Stereotype durchbrechen. 

Filme von Roma bieten keine neutralen Beobachtungen, sondern radikal authentische Perspektiven auf das Leben. Wahre Inklusion bedeutet nicht nur, Roma auf der Leinwand zu zeigen, sondern ihnen auch die Kamera in die Hand zu geben. Die Zukunft des europäischen Films ist unvollständig, solange Roma-Stimmen nicht als gleichberechtigter Teil der Filmproduktion wahrgenommen und gefördert würden, so Timea Junghaus.  

Roma in film shatter stereotypes, offering raw, poetic visions of resilience, beauty, and defiance. Roma stories—long silenced— enrich cinema with radical authenticity. True inclusion means Roma behind the camera, too, shaping narratives. The future of film is incomplete without Roma voices at its heart.

Timea Junghaus

Stufen schaffen, nicht nur Bilder zeigen 

Dass es für strukturelle Veränderung mehr braucht als bloße Sichtbarkeit, ist auch Susan Newman-Baudais bewusst. Sie ist Executive Director von Eurimages, dem Filmförderfonds des Europarats mit Sitz in Straßburg. Mit über 27 Jahren Erfahrung in der europäischen Film- und Fernsehwelt bringt sie tiefes Wissen über Fördermechanismen, Diversitätsstrategien und Koproduktionsstrukturen mit. Ihre Vision: mehr Gerechtigkeit, mehr Teilhabe, mehr Zukunft für das europäische Kino. 

Eurimages wurde 1988 gegründet und hat seither rund 2.300 internationale Koproduktionen mit insgesamt über 655 Millionen Euro unterstützt – vor allem im Bereich Spielfilm, Dokumentarfilm und Animation. Seit ihrem Wechsel an die Spitze des Fonds legt Newman-Baudais einen besonderen Fokus auf neue Auswahlmethoden und gezielte Maßnahmen für Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und ökologische Nachhaltigkeit. 

Pursuing the pioneering work done on gender equality and expanding it towards diversity will also be a priority as will the development of a green action plan.

Susan Newman-Baudais

Zwei Frauen, Seite an Seite  

Nicht nur auf dem Foto, sondern auch in ihrer Haltung. Sie stehen sinnbildlich für eine doppelte Bewegung: die Stärkung marginalisierter Gruppen im europäischen Film und die Sichtbarkeit von Frauen an Entscheidungsstellen. Dazu trägt auch ERIAC bei, indem im Pitch Deck sogar mehr als die Hälfte der Projekte von weiblich gelesenen Regisseurinnen stammt.   

Im Kulturbetrieb – ob auf der Bühne, im Kino oder bei Förderinstitutionen – haben es Frauen noch immer schwer, als Autorinnen, Regisseurinnen oder Entscheiderinnen wahrgenommen zu werden. Wer zusätzlich einer Minderheit angehört, muss nicht nur gegen gläserne Decken kämpfen, sondern oft auch gegen unsichtbare Mauern: institutionelle Barrieren, stereotype Erwartungen, fehlende Netzwerke und mehr.  

Aber manchmal – Kalenderspruch Nummer 1 – sind es genau diese schmerzhaften Herausforderungen, aus denen später etwas wächst. Nicht weil Leid heilsam wäre, sondern weil es Blickwinkel schärft, die man sich freiwillig nie ausgesucht hätte.  

Timea Junghaus und Susan Newman-Baudais

Von Null auf Hundert, aber ohne Null hätte es nicht geklappt  

Alina Serban ist bekannt als Schauspielerin, Autorin, Regisseurin und Aktivistin. Weniger bekannt ist auf den ersten Blick ihr Durchhaltevermögen, wenn äußere Umstände ihr in die Quere kommen. So hat sie als Kind nicht nur den Verlust ihres Elternhauses miterlebt, sondern wuchs einige Zeit auch im Kinderheim auf. An Stelle von persönlicher Entfaltung und Glück wurden ihr vielmehr die Hindernisse und Gefahren als rumänische Roma aufgezeigt.  

Aber Alina Serban hat etwas Grundsätzliches verstanden: Sie hat ihre Zukunft selbst in der Hand und die Kraft sich aus alten Erfahrungen herauszubewegen und die Möglichkeit diese im besten Fall noch zu ihren Gunsten zu nutzen (Kalenderspruch Nummer 2). Auch wenn es kitschig klingt, ist diese Erkenntnis allemal der Rede wert, denn es braucht Tonnen von Selbstvertrauen und Mut seinen Fuß auf die Leiter des persönlichen Erfolges zu wagen.  

Nach ihrem Schulabschluss, den sie als erstes Mitglied in ihrer Familie erhält, geht sie an die Caragiale Academy of Theatrical Arts and Cinematography in Bukarest. Dort greift sie liebevoll auf ihre Erfahrungen und Tagebucheinträge zurück und schreibt Ein-Personen-Stücke „Slumdog Roma“ und „Two weeks, maximum one month, maybe six years“. Ihr Schauspieltalent kann sie in einigen Kurzfilmen sowie Fernsehproduktionen weiter verfeinern. Gleichzeitig schreibt sie mehrere preisgekrönte Theaterstücke, wie „I Declare at My Own Risk“ (2012), und eine Roma-Märchensammlung, basierend auf den Erzählungen ihrer Tanten.  

 

I Matter / Ich bin wichtig (Bitte laut nachsprechen) 

Heute führt sie ihr Lebenslauf mit ihrem Langfilm „I Matter“ ins ERIAC Film Pitch Deck. Ausgehend von einem gleichnamigen Kurzfilm erzählt sie darin nahezu biographisch die Geschichte der jungen Roma-Frau Rebecca, die in einem Waisenhaus aufwächst, während ihre Mutter im Gefängnis ist. Sie entscheidet sich Schauspielerin zu werden und ist alsbald konfrontiert mit Schamgefühlen über ihre Vergangenheit, Einsamkeit und dem Bruch zwischen Realität und Traum.  

Produziert wird der Film von keiner geringeren Persönlichkeit als Ada Solomon, einer rumänischen Filmproduzentin, die ebenfalls in der Filmpolitik tätig ist. Schon in der Vergangenheit hat sie als Produzentin mit Alina Serban zusammengearbeitet, so zum Beispiel für die Kurzfilme „I Matter“ (2021) oder „Vanessa“ (2022). Dass sich beide nun der Thematik von „I Matter“ ausführlicher in einem Langfilmdebüt widmen, verspricht eine noch stärkere Behandlung der Themen. Als europäische Ko-Produktion mit Rumänien, Deutschland und Frankreich, sowie einem geplanten Budget von 1,5 Millionen Euro scheint Alina Serban am Ende der Leiter angekommen. Aber das bedeutet kein Ende ihrer Arbeit. Die Leiter, die eins wackelig war, hat sie nun für alle nach ihr stabilisiert.  

So ist auch der Titel des Films vielweniger egozentrisch gewählt, sondern vielmehr als subtile positive Affirmation. So wird jede Person, die den Titel liest, immer wieder an das Wesentliche erinnert. (Und man kann dem nicht entkommen, denn alles was wir in Ich-Form lesen, d.h. was unsere innere Stimme uns vorliest, kommt bei unserem formbaren Gehirn an – Stichwort Neuroplastizität.) – Danke Alina!  

 

Kalenderspruch Nummer 3: Kreativität heilt.  

Oder zumindest hilft sie dabei, etwas auszuhalten. Monica Manganelli nutzt keine Affirmationen, sie arbeitet mit animierten Bildern. Poetisch, politisch und präzise erreicht auch kindliche Fantasie unser Gehirn.  

Die in Parma geborene Regisseurin und Visual Artist begann ihre Laufbahn als Bühnenbildnerin in europäischen Opernproduktionen. Heute widmet sie sich zunehmend dem Animations- und Dokumentarfilm, wobei ihr akademischer Hintergrund in Architektur und Kunstgeschichte ihren Arbeiten eine originelle visuelle Handschrift schenkt.  

Ihr animiertes Regiedebüt „The Ballad of the Homeless“ (2015) wurde mehrfach ausgezeichnet, ebenso wie der Kurzfilm „Butterflies in Berlin – Diary of a Soul Split in Two“ (2019), eine Dokumentation, die sich mit der Verfolgung queerer Menschen im Nationalsozialismus beschäftigt.  

Trotz bunter Animation tragen ihre Werke schmerzvolle kollektive Erinnerungen der Realität. Mal erzählen sie vom Erdbeben in der Emilia Romagna Region im Jahr 2012 („The Ballad oft the Homeless“), mal von der erfolglosen Suche nach persönlicher Entfaltung und der Freiheit zu sein, wer man sein will zu Zeiten des Nationalsozialismus in Deutschland („Butterflies in Berlin“).  

 

Mit blinder Fantasie mehr sehen  

Mit ihrem neuen Projekt „Hope. An (almost) Gypsy Fairy Tale“ bleibt Monica Manganelli diesem Weg treu. Darin erzählt sie die Geschichte einer Roma-Familie im zweiten Weltkrieg, bestehend aus einem blinden Mädchen namens Hope und ihrem Vater Grigo.  

Durch die Blindheit kann das Kind das Ausmaß der Verfolgung und Vertreibung nur durch ihre Fantasie wahrnehmen, was der gesamten Animation eine authentische Berechtigung gibt. Die Magie der unschuldigen Kinderaugen und ihre Fantasie begründen die visuell schöne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, während die Wahrheit und Realität der historischen Fakten einen bitteren Kontrast formen.  

POWER TO FANTASY, because it is the power that resides in the imagination to make bearable any horror and impatience that life forces us to face.

Hope. An (almost) Gypsy Fairy Tale in ERIAC Film Pitch Deck

Monica Manganellis Langfilmprojekt ist im Vergleich zu dem von Alina Serban eher klein angelegt: Für die geplante Ko-Produktion zwischen Italien und den USA ist ein Budget von 250.000 Euro vorgesehen. Zu diesem Zeitpunkt sind laut ERIAC Pitch Deck in der Entwicklungsphase schon 30% davon gesichert.  

Die Regisseurin verrät zudem, dass das Drehbuch abgeschlossen ist und „important actors“ als Voice Over zugestimmt haben – ein bedeutender Schritt für den kulturellen Austausch und der Tragweite ihres Werks. Gerade bei einem politischen Stoff wie diesem ist es ein starkes Zeichen, echte Stimmen statt künstlicher Intelligenz einzusetzen, wie es von der Filmbranche aktuell mehr und mehr befürchtet wird. Bleiben wir gespannt, um wen es sich dabei handelt!  

An (almost) Gypsy Fairy Tale

Wer Fördertöpfe öffnet, öffnet Wege. Wer Leitern stabilisiert, ermöglicht Aufstieg. 

Auch wenn die Filme aus dem ERIAC Pitch Deck (noch) nicht direkt über Eurimages gefördert werden, ist die gemeinsame Präsenz von Timea Junghaus und Susan Newman-Baudais in Cannes ein starkes Signal. Und auch wenn Frauen noch nicht die Welt regieren, ist ihre Sichtbarkeit, mit ihrem Mut zu ehrlichen persönlichen Geschichten und neuen unkonventionellen Perspektiven, ein wertvoller Schritt nach oben, der nicht mehr nur in der Fantasie existieren muss.  

Über die Autorin

Mehrsprachig aufgewachsen und mit Kenntnissen in fünf Sprachen bringt Anna Skenderoglou ein feines Gespür für kulturelle Vielfalt und sprachliche Feinheiten mit, das ihre Perspektive auf Film und Medien prägt. Nach ihrem Studium der französischen Sprach- und Kulturwissenschaft sowie Philosophie an der Universität Heidelberg hat sie als Filmkuratorin beim Kurzfilmfestival von Nizza wertvolle Einblicke in Filmauswahl und Programmgestaltung gesammelt. Mit besonderem Interesse an der Wirkung von Originalsprache und Übersetzung auf die Filmwahrnehmung setzt sie ihr Studium nun in einem internationalen Masterprogramm fort.