Blogpost Filmfestival Cannes 2025 Roma-Filmkunst im südfranzösischen Rampenlicht

von Anna Skenderoglou 

 

Vom 13. bis 24. Mai 2025 wurden neue Projekte und Kollaborationen rund um Kino bei exklusiven Mittagessen in teuren Strandrestaurants oder einem kühlen Bier in privaten Gärten im Süden Frankreichs besprochen. Kurz: die internationalen Filmfestspiele von Cannes waren zum 78. Mal zurück! 

 

Logo Festival de Cannes

Der Weg zu ERIAC auf dem Marché du Film in Cannes 2025

Was von außen nach unnötigem Luxus aussieht, ist es tatsächlich auch von innen. Man wird eingeladen, kriegt eine Vielfalt an kostenlosen Getränken und Canapés und eine Menge auf teurem Papier gedruckte Visitenkarten – aber nicht in Büros, sondern auf Terrassen, am Strand, im Hotel… Wo Geld ist, will es ausgegeben werden –  ironischerweise – denn gleichzeitig ist der Großteil der professionellen Gäste dort auf der Suche nach Geld, um langerträumte Projekte umzusetzen oder auf die nächste Stufe, zur  montée des marches (das Besteigen der rot geteppichten Treppen des Palais) zu bringen. 

Seit 1959 ist der Marché du film (der Filmmarkt) bester Bestandteil des Festivals und Ort für diejenigen geschäftlichen Angelegenheiten, die auf dem roten Teppich im Hintergrund stehen: hier treffen Produzent:innen, Regisseur:innen, Verleih- und Förderinstitutionen sowie Sender aufeinander, um neue Projekte vorzustellen, Kollaborationen zu planen und vor allem die Finanzierung zu sichern. 

Teil dieses Markts ist das Village International, eine Art kleines Dorf direkt an der Promenade neben dem Festivalpalais. In zahlreichen Pavillons präsentierten Länder aus der ganzen Welt ihr Kino und die Institutionen und Personen, die es voranbringen. Kaffee, Gummibärchen und manchmal einfach nur ein schattiger Platz zum Durchatmen locken die internationalen, akkreditierten Gäste und initiieren Gespräche. 

Man kann seine Meetings aber auch im Voraus planen und gezielt zu den einzelnen Ständen gehen. So ungefähr habe ich es gemacht, als ich Radu Sticlea immerhin eine Stunde vorher über mein Kommen informiert habe. (Wir waren uns beide schnell einig, dass die spontanen Treffen in Cannes die sichersten und einfachsten sind, denn Absagen und Terminlücken nach einer langen Partynacht sind keine Seltenheit).  

Aber wer ist Radu Sticlea und was führt ihn nach Cannes? Radu ist Teil von ERIAC, dem European Roma Institute for Arts and Culture, und dort seit 2023 verantwortlich für PR & Kommunikation. Er ist selbst Künstler, Kurator und Art Director mit einem Hintergrund in Kunst und Multimedia. In seiner Arbeit konzentriert er sich zunehmend auf Film mit einem besonderen Fokus auf Nachwuchskünstler:innen aus der „New East“ – Szene. Dieses Jahr repräsentiert er ERIAC beim Creative Europe MEDIA Desk und stellt zwölf Filme bzw. Regisseur:innen vor, die von ERIAC unterstützt und begleitet werden. Wie es dazu kommt, erklärt er zwischen Meetings mit viel Ruhe und einer Tasse Kaffee: 

Poster Marche du Film, Cannes 2025

Was macht ERIAC beim Creative Europe MEDIA Stand? 

ERIAC, das European Roma Institute for Arts and Culture hat sich mit einem innovativen Projekt beim Förderprogramm Creative Europe MEDIA beworben. Im Zentrum steht die Entwicklung eines Labels, das Roma-Filmschaffende zertifizieren soll, die sich ihrer Rolle als Repräsentant:innen bewusst sind und verantwortungsvoll mit der Darstellung ihrer Community umgehen. Ziel ist es nicht nur stereotype Darstellungen zu vermeiden, sondern aktiv zur Diversität im europäischen Film beizutragen.

Die Grundlage für diesen Antrag bildete eine umfassende Studie von ERIAC zur Situation von Roma-Filmemacher:innen in Europa. Das Ergebnis: Es mangelt nicht an Talent, sondern vielmehr an gezielter Unterstützung, Orientierung und Zugang zu Förderstrukturen. Das geplante Label soll genau hier ansetzen – als Qualitätssiegel, das Filmschaffenden nicht nur Sichtbarkeit, sondern auch bessere Chancen auf Finanzierung und internationale Zusammenarbeit eröffnet.

Aktuell befindet sich das Projekt in der Bewertungsphase. ERIAC wurde bereits auf eine Shortlist gesetzt und ist dadurch Teil des Creative Europe MEDIA Stands auf dem Marché du Film in Cannes. Diese Plattform nutzt ERIAC, um das Vorhaben vorzustellen, Feedback einzuholen und weitere Partner:innen zu gewinnen. Geplant ist, das Projekt auch auf anderen internationalen Festivals zu präsentieren und so das Bewusstsein für faire und vielfältige Repräsentation im Film weiter zu stärken.

Cover des ERIAC Film Pitch Deck

Und die zwölf Filme? 

Die zwölf ausgewählten Filme des Film Pitch Deck illustrieren diese Vielfalt. Ob es um generational trauma (Symphony of Seasons) oder eine Neuverhandlung von Stereotypen (Do Magic) geht, sind sowohl dokumentarische als auch fiktionale Lang- sowie Kurzfilme Teil der Sammlung. Einige dieser Projekte werden allein von Roma-Filmemacher:innen geleitet, andere zusätzlich von nicht-Roma-Kreativen mitentwickelt und unterstützt. Alle ausgewählten Werke konzentrieren sich auf Roma-Protagonist:innen und -geschichten und wurden aufgrund ihrer künstlerischen Qualität und ihres Potenzials ausgewählt, zu einer inklusiveren Filmlandschaft beizutragen. 

Das Pitch Deck enthält die Projekte „A Dangerous Journey“, „Caliu: Nothing Else, What Else Can I Do?“, „Do Magic“, „Hope. An (Almost) Gypsy Fairy Tale“, „I Matter“, „Jem“, „Romi Vajda – The Palace Revolution“, „Rozkvet“, „Songs of the Walking People“, „Soske?“, „Symphony of Seasons“ und „Tales from the Wagon“.

Die vorgestellten Projekte sind in verschiedenen Entwicklungs- und Produktionsstadien und profitieren von dem Rampenlicht in Cannes und den anderen Filmfestivals, wo die Printausgabe des Film Pitch Decks vergeben wird. Die digitale Version ist im Internet öffentlich zugänglich und Produzent:innen, Programmgestalter:innen, Förderorganisationen und Filmfachleute sind eingeladen sich mit diesen Geschichten auseinanderzusetzen und mit den dahinterstehenden Filmemacher:innen in Kontakt zu treten. Noch schöner ist es, wenn sie dann auch antworten! So wie Sami Mustafa, der mir noch an seinem letzten Tag in Cannes mehr von seinem Film und seiner Arbeit erzählen konnte. 

Wie es sich für Cannes gehört, trafen wir uns in einem der fürs Festival privatisierten Hotelgärten (der eigentlich für einen ganz anderen Zweck vorgesehen ist, aber in Cannes will man kein Geld ausgeben und man geht dorthin, wo alte Connections einen reinbringen). In einer ruhigen Ecke des Hotels erzählte er mir von seiner Arbeit und seinem Filmprojekt. 

Close-Up: Sami Mustafa

Sami ist einer der Roma-Filmschaffenden, die im diesjährigen Pitch Deck von ERIAC vertreten sind. Geboren in Plementina, einem kleinen Dorf im Kosovo, begann Sami 2003 – damals noch als Filmpraktikant – seine ersten dokumentarischen Arbeiten. Heute, über zwei Jahrzehnte später, hat er mehr als fünfzig Kurzfilme und zwei Langfilme produziert. Mit seinem eigenen Produktionshaus Romawood sowie dem Rolling Film Festival, die er beide ins Leben gerufen hat, schafft er Räume, in denen Roma-Geschichten selbstbestimmt erzählt werden. Mittlerweile lebt Sami mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern auf Korsika. In unserem Gespräch betont er, wie wichtig der Ort ist, an dem wir leben und wie stark er das kreative Arbeiten beeinflusst. 

Zuvor lebte er nämlich zehn Jahre in Lyon, wo er sich als ausländischer Roma-Filmemacher nie wirklich Teil der lokalen Filmszene fühlte. Es gab dort bereits genug etablierte, in Frankreich ausgebildete Filmschaffende mit besseren Zugängen, die außerdem keine vom Krieg geprägte Familiengeschichte im Gepäck trugen. An diesen oft unscheinbaren Barrieren setzt ERIAC an und verfolgt das Ziel unter diesen strukturellen Voraussetzungen künstlerisches Arbeiten dennoch möglich zu machen – mit Sichtbarkeit, Netzwerken und finanzieller Unterstützung. Eine ähnliche Einrichtung in Frankreich gäbe es nicht, erzählt Sami.

Auf Korsika wurde aus den vermeintlichen Hindernissen schließlich eine Inspiration, seine Wurzeln und die Herausforderungen, die sie mit sich bringen, in einem Film zu verarbeiten. Dies führt ihn schließlich zum 78. Filmfestival von Cannes, wo ich ihn treffen konnte, um von seinem neusten Filmprojekt zu hören: „Symphony of Seasons“. 

 

 

Portrait of the filmmaker Sami Mustafa

Roma on Screen: „Symphony of Seasons“

Im Dokumentarfilm „Symphony of Seasons“ begleitet er sich selbst auf einer Reise zurück zu seinen Wurzeln im Kosovo – erzählt in Form eines Briefes an seine Mutter und in vier Kapiteln, die den Jahreszeiten und Lebensphasen folgen. Das Werk verwebt persönliche Erinnerung mit gesellschaftlicher Realität und stellt sich aktuellen Herausforderungen wie Stereotypen, Heimatlosigkeit und dem Erstarken rechter Ideologien.

 

Wie kam es zu diesem Projekt? 

Die Idee hatte Sami 2022 als seine Mutter verstorben ist. Damals arbeitete er aber noch an anderen Projekten. Erst als das ruhiger wurde, hat er angefangen zu schreiben. Innerhalb einer Woche hatte er sein Konzept niedergeschrieben.  Er erklärt, dass letztes Jahr seine Ideen häufig noch nicht ausreichend waren, um Produktion und Förderung zu finden. Er erklärt, niemand wollte einen Film über einen Mann sehen, der Briefe an seine tote Mutter schreibt. So gesehen ist es nicht sehr politisch, aber bei genauerem Hinsehen wird es politisch. 

„When you talk about identity, you talk about politics – so even the identity of being a kid or being a father or husband is political. The roles, the feminism – everything becomes very political.”

 

Wie wird der Film aussehen? 

Der Film entfaltet sich in den vier Bewegungen der Jahreszeiten und vier Lebensabschnitten, wobei jedes Kapitel von den jeweiligen elementaren Rhythmen des Lebens – Geburt, Kindheit, Erwachsenenalter und Lebensende – durchdrungen ist und eine transformative Reise erzählt. Anhand von Archivaufnahmen (Fotografien und Videos) seiner Kindheit zieht er die Linie zum heutigen Leben und zeichnet Parallelen zu seinen Kindern und Elternsein. Im Dokumentarstil filmt er dabei sich selbst, seine Familie und die Welt, die ihn heute umgibt. 

„ How is it to be a parent? I have two kids, and my mother had seven of us. So, there is no near comparison to that one. And then you know, I live on this beautiful island and everybody’s happy, but you know, she lived through the Bosnian war and then had my brothers, who also went to war.”

Was bedeutet es Mutter bzw. Vater zu sein? Mit seiner Mutter als Leitfigur des Filmes erzählt er Geschichten von Vertreibung, Kampf und Überleben, die bis heute nachwirken und Samis Art Vater zu sein beeinflussen. Die Herausforderung: Können wir einen Weg finden, uns mit der Vergangenheit zu versöhnen, ohne an sie gebunden zu sein? 

 

Welche Themen beleuchtet der Film?

Die Jahreszeiten erlauben ihm nicht nur als dramaturgisches Gerüst die vier Lebenskapitel einzuführen, sondern fügen seiner ganzen Geschichte eine tiefergehende Verbundenheit hinzu. So wie die Samen eines vergangenen Winters die Blüten des kommenden Frühlings hervorbringen, wirken auch die Erfahrungen und Entscheidungen früherer Generationen in das Leben der nächsten hinein. Hier geht es um das unsichtbare Erbe, das sich durch familiäre Geschichten, unausgesprochene Erinnerungen und gesellschaftliche Prägungen zieht, Stichwort generational trauma.  

Samis Film zeigt nicht nur Wege mit dieser Last umzugehen (Familienarchive durchforsten, Familienmitglieder befragen), sondern ist gleichzeitig selbst einer dieser Wege (künstlerische Verarbeitung). Dabei werden die traumatischen Ereignisse auch in den Fokus genommen. So geht es im zweiten Kapitel der Kindheit und Jugend um Demonstrationen, an denen Sami teilgenommen hat und Polizeigewalt, die ihn bis heute geprägt hat. Im dritten Kapitel lässt er seinen Bruder sprechen, der vom Krieg vorher nicht viel erzählt hat. Entlang diesen Erzählungen und Archivaufnahmen zielt der Film auf eine Reflexion über die Lage im Kosovo und die Folgen des Krieges für Familien und Nachkommen. 

„There is hope. There is a new beginning. Generations continue.”

„Symphony of Seasons“ fühlt sich durch Samis Beschreibungen an wie ein Gespräch – mit sich selbst, mit der Vergangenheit und mit der Zukunft. Eine Symphonie, die über die persönlichen Erfahrungen des Regisseurs hinausreicht und auch nächste Generationen und Menschen mit anderen Hintergründen auf Identitätssuche berührt. Die Dreharbeiten sind für Juni und Juli 2025 geplant. Wenn alles gut läuft können wir den Film nächstes Jahr erwarten. 

 

Anna Skenderoglou

Anna Skenderoglou vereint in ihrem Profil an der Universität Heidelberg französische Kultur- und Sprachwissenschaften mit Philosophie und einem starken Fokus auf Film und Medien. Da sie zweisprachig aufgewachsen ist und fünf Sprachen spricht, hat sie ein ausgeprägtes Bewusstsein für kulturelle Vielfalt und den subtilen Einfluss von Sprache auf Wahrnehmungen. Durch ihre Erfahrung als Filmkuratorin beim Kurzfilmfestival in Nizza beschäftigt sie sich mit den Herausforderungen der Programmgestaltung über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. Mit einem besonderen Interesse daran, wie Originalsprache und Übersetzung die Wahrnehmung von Filmen beeinflussen, setzt sie ihren akademischen Weg in einem internationalen Masterstudiengang fort.