Blogpost von Anna Skenderoglou Die Entscheidung zu bleiben – oder gehen zu dürfen. Von einem Ort, aber auch von einer Liebe

Rein in das Unbequeme – aber freiwillig  

„Raus aus der Comfort Zone“ – dieser Satz klebt seit der Pandemie-Phase an den Wänden meiner Generation. Und auch ich bin ihm gefolgt: Vor zwei Jahren habe ich Deutschland verlassen, um im Ausland zu leben.  

Es war eine Entscheidung, die ich selbst getroffen habe. Ich habe mir den Ort ausgesucht, konnte mich vorbereiten und jederzeit zurückkehren, wenn mir danach war. Dieser einfache Satz – „Ich will jetzt mal woanders sein“ – ist ein Luxus, den ich viel zu lange nicht als solchen gesehen habe. Erst in den kleinen, nervigen Auslands-Momenten, wenn ich mich nach zuhause sehne, wird mir bewusst: Ich kann einfach zurück. Für ein paar Wochen oder Monate. Ich darf zwischen Orten wechseln. Ich bin frei.  

Diese Freiheit ist nicht selbstverständlich. Und sie wird erst schmerzhaft sichtbar, wenn man sieht, wem sie verwehrt bleibt. Dann fängt auch das Gedankenkarussell an, das keinen Halt macht vor all den Bereichen, in denen diese Freiheit genommen werden kann und wo die Auswirkungen zu spüren sind. Der Filmemacher Sejad Ademaj nutzt den Film als Medium dem Ganzen eine Bühne zu geben. Drei seiner Filme ziehen die Zuschauenden aus der Bequemlichkeit ins unbequeme Hinterfragen weitverbreiteter Ungerechtigkeiten und Rollen.  

Fünfzehn Minuten: Jasmina und das Gewicht einer Viertelstunde  

Jasmina ist eine dieser Personen, die nicht die gleichen Freiheiten, wie ich genießt. Ich habe sie im Kurzfilm „Fünfzehn Minuten“ von Sejad Ademaj kennengelernt – und seitdem nicht vergessen. Als Teil von Sejads fiktiver Geschichte lebt sie in Deutschland, ist dort geboren, zur Schule gegangen und spricht fließend Deutsch.  

Sie hat nicht mal ein weites Ziel, sie will in Deutschland bleiben und nur den Landkreis nebenan besuchen. Alle Jugendlichen träumen wohl von der Großstadt und so wartet auch sie ungeduldig auf die Klassenfahrt nach Berlin. Aber selbst das, steht ihr mit einem Duldungsstatus in Deutschland nur eingeschränkt zu. Jede Reise muss angemeldet werden und selbst den Landkreis darf sie nicht ohne Genehmigung verlassen. Das heißt erstmal kein Urlaub und keine spontanen Städtetrips mit Freundschaften beim Großwerden. Das heißt aber auch keine echte Zukunftsplanung und keine Chancengleichheit.  

Filmposter „Fünfzehn Minuten“
Drei Personen aus dem Kurzfilm „Fünfzehn Minuten“
Zwei Personen aus dem Kurzfilm „Fünfzehn Minuten“ stehen sich gegenüber und sehen sich ins Gesicht

Die liebevoll-genervten Gespräche mit den Eltern, das Switchen zwischen Sprachen, das bessere Verstehen der Amtsbriefe: In ihrem Alltag ist sie mir nah und ich kenne diese besondere Form von „Kindheit“, in der doch so viel Erwachsensein gefragt ist. Aber es liegt immer noch ein deutscher Pass zwischen uns, der mir doch mehr Unabhängigkeit erlaubt.  

Jasmina weiß immer was mit den Behörden abgeht, deswegen will sie auch zehn Mal auf Nummer sicher gehen, dass alles für ihre Klassenfahrt abgeklärt ist. Auch wenn die Antwort ja ist, zeigt der Film, dass selbst eine genehmigte Reise keine Sicherheit bietet. Und das erzählt der Film: Mitten in der Nacht klingelt die Polizei. Die Familie soll abgeschoben werden und sie haben 15 Minuten Zeit, um ihre wichtigsten Sachen zu packen. Jasmina, die ihre Welt zerbrechen sieht und das gesamte Gewicht ihres Schicksals auf ihr zusammenfallen sieht, sucht verzweifelt Hilfe bei der Mutter ihres Freundes, einer Anwältin. Doch sie kann nichts für die Familie tun und so verlieren die Menschenrechte an diesem Abend nach und nach ihren Wert.  

Der Film endet mit einem stillen, erschütternden Bild: Jasmina schließt sich im Badezimmer ein, bis ein Polizist schließlich nach Hilfe ruft. Es ist nicht überinszeniert oder dramatisch aufgeladen, sondern realistisch und gerade deshalb so wirkungsvoll.  

Wer erzählt hier eigentlich? Sejad Ademaj und seine Perspektive 

„Fünfzehn Minuten“ ist ein Kurzfilm, der in einer knappen Viertelstunde mehr berührt, als manche abendfüllende Produktionen. Der Regisseur Sejad Ademaj weiß, wovon er erzählt. Er ist selbst als Kind mit seiner Roma-Familie aus Montenegro nach Deutschland geflohen – und lebte fast zwei Jahrzehnte mit Duldungsstatus. Seine Filme basieren nicht nur auf Beobachtung, sondern auf Erfahrung. Heute spricht Sejad offen darüber, wie sehr ihn diese Jahre geprägt haben und wie früh er verstehen musste, was Flucht mit Familien und der Psyche macht.

In einem Interview erklärt der Regisseur, dass das Recht auf Sicherheit, Frieden und Reisefreizügigkeit, sowie das Streben nach persönlichem Glück als Menschenrechte unverzichtbar sind, allerdings in der Realität für Migrant:innen nicht erlaubt sind. Seine Familie hat nach 18 Jahren (!) eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, womit er heute unbefristet bleiben kann, aber mit Verweis auf die aktuellen politischen Entwicklungen ist eine vollständige Sicherheit nicht garantiert. 

Nach Hauptschule, Mittlerer Reife und Abitur macht Sejad eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann im Freiburger E-Werk, einem kulturellen Zentrum für bildende Kunst, Theater, Musik und Tanz. Sein Interesse für Medien und ihre Rolle bei der Repräsentation von Minderheiten und Migrationskontexten führt ihn schließlich zum Studium der Mediengestaltung und -produktion an der Hochschule in Offenburg. Darauf folgt ein Drehbuchstudium an der Filmakademie Baden-Württemberg, an der sein Kurzfilm „Fünfzehn Minuten“ entstanden ist.  

Portrait von Sejad Ademaj

Wohin mit „Fünfzehn Minuten“ außerhalb der Kurzfilmleinwände?  

Nach seiner Premiere auf den Hofer Filmtagen im Jahr 2022 gewinnt der Film den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis. Dabei handelt es sich um einen deutschen, unabhängigen Medienwettbewerb, getragen von über zwanzig Organisationen, darunter Menschenrechts-, Bildungs- Kultur- und Medienorganisationen, sowie Gewerkschaften. Seit 1998 werden von ihren Vertreter:innen alle zwei Jahre mehrere Medienprodukte bzw. Filme für ihren Beitrag zur Achtung und Wahrung der Menschenrechte gekürt. Für die Filme gibt es sechs Kategorien, die jeweils mit einem Preisgeld von 2.500 Euro dotiert sind.  

Sejads Film gewinnt in der Kategorie Bildung, in welcher die Einreichungen aller Kategorien berücksichtigt werden. Der gekürte Film eignet sich besonders für Bildungsarbeit und wird daher durch das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) als didaktisches Unterrichtsmedium veröffentlicht.  

 

Deutsche Sprache, Schwere Sprache: Zehn Minuten Ausländer sein  

Wie sich in fünfzehn Minuten noch alles verändern kann, zeigt Sejad Ademajs zweiter Kurzfilm „Deutsche Sprache, schwere Sprache“, in dem ein Autounfall Grund für die plötzliche Sprachunfähigkeit eines rechtsextremen Sängers ist. Genauer: Er kann nur noch Arabisch sprechen, die Sprache des Unfallverursachers, den er als seinen behandelnden Arzt im Krankenhaus wiedersieht.  

Die Komik des Films entsteht aus der Spannung zwischen ideologischer Haltung und sprachlicher Realität. Ein rechtsextremer Sänger, der nur noch arabisch sprechen kann, ist nicht nur ein Widerspruch, sondern auch eine Karikatur seiner selbst. Wie viel Ideologie hängt an der Sprache – und wie viel fällt davon in sich zusammen, wenn diese Sprache nicht mehr verfügbar ist?  

 

Fremdsprache?  

Im Krankenhaus wird bei Theo ein „Fremdsprachen-Akzent-Syndrom“ diagnostiziert; er kann sich plötzlich nur noch auf arabisch verständigen. Mahmoud begründet seine Fahrerflucht mit seiner baldigen Einbürgerung, woraufhin Theo ihn dazu drängt, ihm für sein kommendes Durchbruchskonzert wieder die deutsche Sprache beizubringen. Mit dem Polizeiverhör als Rahmen der Handlung, spielt der Film mit der Ironie des Schicksals und verdeutlicht nicht nur die Macht der Sprache, sondern auch institutionellen Rassismus.   

Theo hat seine Muttersprache verloren, aber seine problematische Ideologie behalten und wird dennoch gegenüber Mahmoud, der die deutsche Sprache fließend spricht und den Vorfall deutlich erklärt, von der Polizei bevorzugt. Mahmoud hingegen wird als Migrant und Betroffener von Rechtsextremismus für die vermeintliche Beteiligung am rechtsextremen Konzert stärker verurteilt, als die offensichtlich rechtsextreme Band selbst.  

Drei Personen im Halbdunkeln
Verletzte Person im Krankenbett zeigt auf etwas

Körpersprache!  

Der visuelle Verweis der Endszene zur Anfangsszene verdichtet sich schließlich zu einer bitteren Allegorie über gesellschaftliche Machtverhältnisse und institutionellen Rassismus: In der ersten Szene sitzt Mahmoud sichtbar angespannt im Polizeiverhör und die Kamera zeigt in den ersten Sekunden seinen Griff nach der leeren Kaffeetasse, die ihm gleich weggenommen wird. Erst mit der Bedingung zu reden, bekommt er sie wieder, als er ein weiteres Mal darum bittet. Neben ihm sieht man Theo währenddessen Kaffee trinken. Was nach polizeilicher Neutralität gegenüber allen Beteiligten aussieht, entwickelt sich vielmehr zu subtilen rassistischen Tätervermutungen – schließlich geht es nicht um den Fahrradunfall, sondern das rechtsextreme Konzert.  

In der letzten Szene kehren beide Figuren ins Verhörzimmer zurück. Parallel zur Einstiegsszene sieht das Publikum die gleiche Abfolge eines Geben und Nehmens von bereitgestellter Verpflegung; diesmal süße Backwaren. Mahmoud streckt die Hand aus, will zugreifen, doch der Teller wird ihm entzogen und zu Theo weitergeschoben, der sich genüsslich daran bedient. Zwischen dem bitteren schwarzen Kaffee und den süßen Backwaren wird die ernste Nachricht des satirischen Films deutlich. Wer bekommt Fürsorge und wer wird ausgeschlossen? Wer darf Fehler machen und wer muss alles richtig machen, um gehört zu werden?  

 

Rollensprache?!!  

Die Antwort auf diese Fragen – wer bekommt Fürsorge, wer wird ausgeschlossen – hängt wohl entscheidend davon ab, in welcher gesellschaftlichen Rolle wir uns gerade befinden. Ob als Migrant:in oder Mehrheitsdeutsche:r, als Mutter, Vater, Tochter, Patient:in, Polizist, Schutzsuchende. Unsere Handlungsspielräume, unser Ansehen, unsere Fehlerquoten – all das wird weniger durch unsere Absichten definiert, als durch die Rollen, die uns zugeschrieben werden. In Migrationskontexten wird das besonders sichtbar: Wer als „fremd“ gelesen wird, muss sich häufig doppelt erklären, doppelt beweisen, doppelt anpassen – und hat meist doppelt so wenig Raum für Ambivalenz oder Scheitern. So auch Mahmoud im Film.  

Aber solche Zuschreibungen betreffen nicht nur Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Auch Geschlechterrollen sind davon durchzogen. Wer darf weich sein? Wer darf wütend sein? Wem wird Stärke zugetraut – und wem Sensibilität abgesprochen?  

 

Let’s Call it Love: (Ent)Scheidung gegen das Alte  

In Sejad Ademajs neustem Kurzfilm „Let’s Call it Love” schwingen diese Fragen mit. Der Film feierte seine Deutschlandpremiere im Januar 2025 auf dem Max Ophüls Festival. Darin verhandeln Rebecca und Paul universelle Themen, die alle Menschen betreffen: Liebe, Trennung und Erinnerung.  

Das Publikum begleitet Rebecca und ihren Ex-Mann Paul nach dem Unterschreiben der Scheidungsunterlagen einen Nachmittag. Die Trennungsgründe und Vorwürfe werden diskutiert, die Neuigkeiten des gemeinsamen Sohnes ausgetauscht, aber auch alte Lieblingseissorten und Gewohnheiten kommen zur Sprache.  

Gleich zu Beginn deutet eine Kreidezeichnung auf dem Asphalt auf die spielerische Kindheit an. Ein mit Blumen geschmückter Torbogen im Café zeigt das ehemalige Paar wie bei einer Trauung, Rebeccas dunkle Sonnenbrille verweist währenddessen beiläufig auf Trauer und Abschied. Die leuchtenden Farben des Sommertages spiegeln dabei die Wärme der gemeinsamen Erinnerungen. Was sich entfaltet, ist kein klassisches Trennungsdrama, sondern ein poetisches Nachsinnen über die bleibenden Spuren gelebter Liebe, jenseits von Schmerz und Enttäuschung.  

Szene aus „Let's Call it Love“
Terrasse eines Cafés

Alte und neue Rollen  

Betrachtet man diese Begegnung durch die Brille klassischer Geschlechterrollen, wirkt manches umgekehrt: Rebecca ist die sachlichere, gefasstere Figur. Paul hingegen wirkt verletzlicher, stiller, fast weicher. Ist das nicht eigentlich der umgekehrte Fall – so wie es jahrzehntelang in Erzählungen, Werbung, Kultur gezeichnet wurde? War es nicht ‚immer der Mann‘, der sich ins Arbeitsleben stürzt und emotional fernbleibt? 

Aber genau das sollte man heute vielleicht nicht mehr so sagen. Denn diese Bilder funktionieren längst nicht mehr – wenn sie es denn je wirklich getan haben. Der Film konfrontiert uns nicht mit einem Rollentausch, sondern mit der Möglichkeit, dass Rollen eben nicht feststehen, sondern verhandelbar sind. 

„Let’s Call it Love“ kommentiert das nicht laut, aber erlaubt, dass man es sehen kann – wenn man hinschaut. Wie Menschen mit Nähe umgehen, wie sie Trennung verarbeiten, wie viel sie zeigen oder verbergen, ist nicht nur persönlich. Es ist auch geprägt, von Erfahrungen, Erwartungen, von der Umgebung, in der man aufgewachsen ist. 

Auch wenn der Film nichts über die Herkunft seiner Figuren verrät, sind Zuschreibungen nie ganz stumm: Sie sehen für viele wohl „deutsch“ aus – was auch immer das bedeuten soll. Aber was wäre, wenn es anders wäre? Oder wenn wir es einfach nicht wüssten? Würden wir uns dann eine bemitleidende Geschichte ausdenken, die ihr Verhalten erklärt? Ihr Verhalten anders lesen? Strenger? Nachsichtiger? Falsch?   

 

Was am Ende bleibt – nach der Wut, der Ohnmacht, den offenen Fragen  

Ist vielleicht etwas ganz Einfaches: Wir Menschen haben alle ähnliche Bedürfnisse. Wir wollen Sicherheit. Nähe. Wir wollen bleiben dürfen, wenn wir angekommen sind. Oder gehen, wenn es uns irgendwohin zieht. Die Filme von Sejad Ademaj halten uns genau das vor Augen – leise, klug, menschlich. Sie zeigen Unterschiede und machen gleichzeitig sichtbar, was uns im Kern verbindet. 

Wenn wir heute also von „Comfort Zone“ sprechen, sollten wir uns auch fragen: Wer hat überhaupt die Wahl, sie zu verlassen – und wer kämpft täglich darum, überhaupt eine zu haben?  

Über die Autorin

Mehrsprachig aufgewachsen und mit Kenntnissen in fünf Sprachen bringt Anna Skenderoglou ein feines Gespür für kulturelle Vielfalt und sprachliche Feinheiten mit, das ihre Perspektive auf Film und Medien prägt. Nach ihrem Studium der französischen Sprach- und Kulturwissenschaft sowie Philosophie an der Universität Heidelberg hat sie als Filmkuratorin beim Kurzfilmfestival von Nizza wertvolle Einblicke in Filmauswahl und Programmgestaltung gesammelt. Mit besonderem Interesse an der Wirkung von Originalsprache und Übersetzung auf die Filmwahrnehmung setzt sie ihr Studium nun in einem internationalen Masterprogramm fort.