Blogpost von Sophie Schollenberger und Dr. Radmila Mladenova Sinti* und Roma* in Corinna C. Poetters Kinderbuch „Jukli“: Eine kritische Analyse
„Jukli oder wie ich einen kleinen Esel an der Backe hatte und nicht mehr loswurde“ ist ein Kinderbuch der deutschen Autorin Corinna C. Poetter, die darin die Themen „Familie, Freundschaft und Identität“ thematisiert (Verlagsbeschreibung). Die Zielgruppe des 2022 erstmals erschienen Buches sind Kinder ab 11 Jahren. Es beschreibt die Geschichte der Außenseiterin Flora, die kaum Anschluss in der Schule findet und auch zu ihren beiden älteren Brüdern ein eher angespanntes Verhältnis hat. Eines Tages trifft sie Mamou, eine ältere Romni, und freundet sich mit ihr (und ihren Eseln, Cocotte und Jukli) an. Flora besucht Mamou nun regelmäßig und lernt die Geschichte von Mamous Familie kennen. Jukli, das Eselfohlen, soll in Frankreich auf einem Eselfest ins Zuchtbuch aufgenommen werden – wozu Mamou eine Reise mit den Eseln plant. Doch Cocotte stirbt, Mamou erleidet einen Schwächeanfall und Flora soll an ihrer statt (und mit Hilfe von Mamous Familie) die Reise mit Jukli antreten. Sie bricht nach Frankreich auf, lernt verschiedene Verwandte von Mamou kennen und schafft es schließlich gerade noch rechtzeitig zum Eselfest.
Im Folgenden sollen verschiedene Aspekte des Buches und seiner Darstellung von Roma hinsichtlich Kultur und Geschichte, sozialer Verortung und dem Aussehen der Individuen betrachtet werden, um eine kritische Auseinandersetzung mit den genutzten Bildern anzuregen.
Kultur und Geschichte der Sinti und Roma in „Jukli“
Das Buch thematisiert die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma sowohl direkt wie auch indirekt. Die Selbstbezeichnung „Sinti und Roma“ wird kurz erläutert, die Geschichte dieser deutschen Minderheit mit Rückgriff auf Stereotype beschrieben: „Fahrendes Volk“ mit Pferdewagen, Herkunftsort Indien, „Suche nach einem guten Platz zum Leben“ als Umschreibung, die potenziell an moderne antiziganistische Darstellungen der Armutsmigration anknüpft (Poetter 38f.). Die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ wird als Z-Wort umschrieben, dessen Rolle als rassistische Fremdbezeichnung in einem Satz erläutert. Das Wort selbst wird nicht ausgeschrieben.
Der Völkermord an den Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten erklärt Mamou zuerst auf einer abstrakten Ebene, anschließend anhand ihrer Familiengeschichte und konkret mittels eines Familienbildes (Poetter 38-40). Zu Beginn des Gesprächs beschreibt Mamou vage, dass alle auf dem Bild abgebildeten Menschen tot seien, auf Nachfrage formuliert sie klarer: „[D]ie sind auch alle tot. Die Nazis haben sie umgebracht“ (Poetter 40). Als Grund für die Verfolgung gibt sie auf Nachfrage nur an: „Es waren Z-Kinder, darum!“ (Poetter 40). Diese Aussage zu den Verfolgungsgründen und zur Verfolgung selbst wird nicht weiter eingeordnet. Auf Floras Nachfrage zu den Tätern und der Verantwortung der Gesellschaft erläutert Mamou jedoch:
„Nein, Flora, das warst nicht du. Oder 'ihr'. Das waren böse Menschen. Und das ist schon ziemlich lange her.“ (Poetter 40)
So werden die nationalsozialistischen Verbrechen und die Täterschaft erläutert, ohne junge Leser*innen zu überfordern oder mit der Thematik der Schuld zu konfrontieren. Die Familiengeschichte steht dabei exemplarisch für die Verfolgungserfahrung der Minderheit. Ungefähr in der Mitte des Buches beschreibt eine Cousine Mamous explizit die alltägliche Diskriminierung und die Stereotype, denen Roma weiterhin begegnen: „Wir haben angeblich keine richtige Schulbildung, leben von Sozialhilfe“ (Poetter 95). Darüber hinaus findet kaum eine Verortung oder Erläuterung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände statt.
Die Autorin verwendet mehrfach Romanes als Sprache der Roma-Charaktere und vermittelt diese als Teil der kulturellen Identität der Minderheit. Mamou nutzt mehrfach einzelne Wörter auf Romanes (wie čhaj – „Kind“) auch im Gespräch mit Flora, um mit Flora zu kommunizieren, was diese jedoch nicht versteht. Dies kann – neben der Vermittlung kultureller Besonderheit – auch so interpretiert werden, dass der Figur dadurch eine unverständliche, gegebenenfalls geheimnisvolle Kultur jenseits der Mehrheitskultur zugeschrieben wird (Krausnick 34-36). Der Zwiespalt, die Sprache Romanes als kulturelles Erbe darzustellen, aber gleichzeitig den Topos der mysteriösen, geheimnisvollen „Zigeunerfigur“ nicht zu verstärken, hätte womöglich durch zahlreichere Übersetzungen aufgelöst werden können. Weiterhin ist überraschend, dass teils Romanes-Wörter dem lateinischen Alphabet ohne Sonderzeichen angepasst werden. Dies zeigt sich vor allem beim titelgebenden Namen „Jukli“, der „eigentlich für žukli“, störrisches Mädchen auf Romanes, steht (Poetter 38). Es wäre nachvollziehbar, dass Mamou den Namen für die Eintragung des Eselfohlens in das Zuchtbuch an das französische Alphabet ohne Sonderzeichen angepasst hat. Unklar bleibt, warum Mamou auch die angepasste Schreibweise nutzt, wenn sie es in der Bedeutung des Wortes, nicht jedoch als Eigennamen nutzt (bspw. Poetter 38). Verstärkt wird dies dadurch, dass „Jukli“ wie „žukli“ gesprochen wird, also vermutlich mit dem Laut „ʒ“ dargestellt werden kann. Damit kommt es an die französische Aussprache des „j“ heran. Die Aussprache des „j“ im Deutschen als „ʒ“ ist hingegen vor allem bei Lehnwörtern gängig. Inwiefern dies den Leser*innen der Zielgruppe geläufig ist und wie oft es in der Folge zu einer (unbeabsichtigten) Verballhornung des Wortes kommt, bleibt offen. Bedauerlicherweise fiel beim Lesen keine weiterführende Erklärung zur Aussprache oder den genutzten Sonderzeichen auf.
Alternative Lebenswelten – Darstellung sozialer Stellung
Das Buch vermittelt eine Bandbreite von Lebenswelten von Roma, indem es einerseits Mamou und ihre Verwandten, die Flora auf der Reise kennenlernt, zu Wort kommen lässt, andererseits aber auch anhand der Beschreibung ihrer Lebensumstände eine Pluralität der Bedingungen und Erfahrungen aufzeigt. Dabei illustriert es gleichzeitig unterschiedliche Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft: Während Mamou in ihrem Haus abseits der Mehrheitsgesellschaft lebt, wohnt ihre Nichte in einem luxuriösen Appartementkomplex in guter Lage – achtet jedoch darauf, dass ihr soziales Umfeld nicht weiß, dass sie eine Romni ist.
Jedoch können auch die Darstellungen der Häuser als stereotyp und problematisch gelesen werden. Mamou beispielsweise wohne nicht in einem Haus, sondern einer „Hütte“. Das Umfeld beschreibt das Buch entsprechend:
„Irgendwie stehe ich auf einmal vor dem Sperrmüllhaufen hinter dem Bahndamm. Heute rauscht die Autobahn laut. […] Vorsichtig stake ich über die wilde Müllhalde. Etwas Felliges, Großes huscht unter mir hinweg. 'Iii!' Eine Ratte! War das eine Ratte? Hastig stolpere ich runter vom Gerümpel und laufe an den Brombeerhecken vorbei zu den verwilderten Gärten. […] Im Zickzack laufe ich über schmale Graspfade vorbei an Gartenhäuschen mit eingestürzten Dächern. Eine alte Badewanne steht am Wegrand, gefüllt mit grünem Wasser, darin Abermillionen Mückenlarven. […] Vor mir ragt ein großes grünes Holztor auf. Auf einem Schild steht: 'Betreten verboten – Achtung, Schusswaffengebrauch!' […] Der Lärm der Autobahn ist mittlerweile ohrenbetäubend[.]“ (Poetter 12-14)
Damit greift das Buch althergebrachte Stereotype des Lebens am Rand der Gesellschaft, inmitten von Dreck und Müll, erneut auf. Hier wird, mit Mamou, der ersten Figur aus der Minderheit, zugleich ein Repertoire an antiziganistischen Bildern aufgerufen, durch die Sinti und Roma sofort als außerhalb der Gesellschaft stehend charakterisiert werden. Dieser antiziganistische Blick kann durch den Fortgang der Geschichte auch nicht mehr aufgelöst werden – die Assoziation mit „Ratten“ in der Nachbarschaft vom Mamou ist ein Bild, das in extrem abwertenden Berichten über die Minderheit immer wieder verwendet wird. Ähnliche Darstellungen finden sich beispielsweise bei Hergés Comic „Die Juwelen der Sängerin“ aus der Tim und Struppi-Reihe:

Auch beschreibt das Buch das enge Zusammenleben von Mamou mit den beiden Eseln und den Durchgang zwischen Wohnraum und Stall und damit einer der modernen Lebensweise fernen, für Flora ungewohnten Konstellation (Poetter 30f). Dies kann als Romantisierung vormoderner Lebensmodelle gelesen werden, was einem etablierten Aspekt des kulturell etablierten „Zigeunerbildes“ in der Kinder- und Jugendliteratur entspricht (Kalkuhl/Tschäpe 135).
Auch die Beschreibung von Bellas Heim, der Großnichte Mamous, weist einige Stereotype auf: Sie wohnt mit ihrer Familie in einem sozial abgehängten Viertel, sodass Flora auf negative Reaktionen stößt, als sie Passanten nach dem Weg dorthin fragt (Poetter 150). In der Beschreibung der Straße selbst wird eine Gegensätzlichkeit zwischen den engen Häusern an der schmalen Straße und den gastfreundlichen Reaktionen ihrer Bewohner deutlich (Poetter 151). Bellas Haus selbst wird kaum beschrieben, wohl aber ihr Zusammenleben mit „[z]u viele[n] Tiere[n]“ (Poetter 159): mindestens eine Katze, ein Hund und ein Schwein. Die Omnipräsenz der (Haus-)Tiere schließt an die Beschreibung des Familienbildes von 1937 an. So mag der Eindruck entstehen, dass das Zusammenleben mit (einer Vielzahl von) Tieren traditionell zur Kultur der Familie oder aber der Minderheit allgemein gehört, womit die oben benannten Stereotype und Vorurteile gestärkt werden.
Am Ende des Buches wird die Feier auf dem Eselfest beschrieben: Sie sitzen am Lagerfeuer, es wird Gitarre gespielt, „eine junge Frau singt dazu“, die Besucher tanzen (Poetter 169). Damit werden als einer der letzten Eindrücke des Buches – und als verbindendes Element von Floras Wegbegleitern, die (abgesehen von Mamou) beim Fest zusammenkommen – zwei gängige Stereotype reproduziert: Einerseits das Reisen der Mitglieder der Minderheit, die zu Festen zusammenkommen, wie auch zweitens das Feiern am Lagerfeuer mit Musizieren und Tanz, das vielfach auch in visuellen Darstellungen wie Comics und Filmen vorkommt (Mihok 104-106). Dieses Motiv findet sich auch in „Die Juwelen der Sängerin“– sowohl im Comic wie auch der Zeichentrickserie:




Im Laufe ihrer Reise wird Flora auch bei einer Cousine Mamous, Sasa, abgesetzt, die in einem Appartementhaus in Paris wohnt (Poetter 88). Einen klaren Kontrast zu den oben genannten Beschreibungen der gelebten Kultur der Minderheit bildet die Beschreibung von Sasas Wohnung. Flora beschreibt die Wohnung als das genaue Gegenteil von Mamous Hütte: groß, stilvoll eingerichtet mit Designermöbeln und Kunst an den Wänden (Poetter 92f.). Im Laufe ihres Aufenthaltes stellt Flora fest, dass Sasa – im Gegensatz zu den ihr bisher bekannten Familienmitgliedern – ihre Identität als Romni gegenüber ihrem sozialen Umfeld verschweigt, da sie sich durch ein Studium einen sozialen Aufstieg jenseits der geschilderten Stereotype ermöglicht hat und diesen nicht riskieren möchte (Poetter 95f.). So entsteht der Eindruck, dass eine gute soziale Stellung und sozialer Aufstieg nicht mit der offen gelebten Angehörigkeit zur Minderheit vereinbar ist.
Individuen mit goldenen Ohrringen?
Auch die Beschreibung der Roma-Charaktere ist divers und bietet so eine individuelle Darstellung jenseits der bloßen Reproduktion von Stereotypen. Sie symbolisieren verschiedene Biografien und Lebensumstände und scheinen vorurteilsbeladene Erwartungen zu durchbrechen. Gleichzeitig treten sie in der Handlung als Nebenfiguren auf, um Flora einen (mehr oder weniger plausiblen) Anlass und Unterstützung für den Roadtrip zu ermöglichen. Dies ist ein etablierter Aufbau von Erzählungen, wie ihn auch Mihok beschreibt: „Insgesamt betrachtet sind die ‚Zigeuner‘ weder Helden noch Hauptdarsteller, sondern geben den Geschichten Kolorit, sie schaffen Atmosphäre oder zeichnen ein Stimmungsbild. Sie sind sozusagen ‚Gastcharaktere‘, die etwas Besonderes, Außergewöhnliches an sich haben und als Randgruppe auftreten. Sie erfüllen höchstens eine spannungserhöhende Funktion.“ (Mihok 107; dazu auch Kalkuhl/Tschäpe 120). Dies widerspricht der Annahme, dass die Charaktere jenseits eines stereotypisierten Bildes als Individuen die Erzählung prägen.
Hinzu kommt, dass die äußerliche Beschreibung der Charaktere stark in Stereotypen verhaftet scheint. Flora beschreibt Mamous Erscheinung bei ihrer ersten Begegnung wie folgt:
„Vor mir steht eine alte Frau, auf einen knorrigen Gehstock gestützt, und grinst mich an. Sie trägt altmodische Goldohrringe, die in der Sonne blitzen.“ (Poetter 7)
Schon bei der ersten Begegnung wird also ein stereotypes Bild einer „Zigeunerfigur“ als alten, vermutlich auch gebückten Frau mit „knotigen Händen“ (Poetter 7) und auffälligem Goldschmuck gezeichnet, das auf Leserinnen und Leser wirkt, ohne dass Mamou explizit als Individuum oder als Angehörige der Minderheit vorgestellt werden müsste. Zwar wird diese Darstellung durch die spätere Vorstellung Mamous und des Erzählens ihrer Familiengeschichte durchbrochen, was bereits erzeugte Fremdheit wieder abschwächt, gleichzeitig werden damit stereotype Darstellungen auch mit personalisierten/individualisierten Einzelfiguren in Zusammenhang gebracht und weitergetragen. Die Beschreibung der Frauen mit Goldohrringen taucht mehrmals im Buch auf, auch bei der Beschreibung des Familienfotos. Die Charakterisierung der Frauen auch durch ihre goldenen Ohrringe stellen ein etabliertes Stereotyp in der Konstruktion von „Zigeunerfiguren“ dar, die sich beispielsweise auch in bildlichen Darstellungen wie Hergés Comic wiederfinden.


Weiterhin bedient die Beschreibung der Familienfotos auch andere Stereotype über die Ohrringe hinaus:
„Oft sind Pferde neben ihnen zu sehen oder Esel, Hunde sowieso, im Hintergrund stehen Planwagen, die Frauen haben lange Röcke an und gemusterte Tücher über den Schultern. Ich erkenne, dass viele der Frauen Mamous Ohrringe tragen.“ (Poetter 39).
Auch Mamous Großnichte Bella wird wiederum mit einem Fokus auf die Ohrringe beschrieben:
„So eine schöne Frau habe ich noch nie gesehen. Alles an ihr strahlt. Mein Blick wandert zu ihren goldenen Ohrringen, große blinkende Creolen, die elegant mitschwingen, wenn sie sich bewegt.“ (Poetter 155).
Gleichzeitig kommt bei Bella – und damit in starkem Kontrast zu Mamou – das Bild der jungen, außergewöhnlich schönen Frau auf, das wiederum stereotypen Darstellungen entspricht. Flora nutzt die Zuschreibung als „schönste Frau der Welt“ (Poetter 156) auch noch, als es darum geht, ob Bella ihr ihr Geheimnis entlocken kann, wodurch diese eigentlich voneinander unabhängigen Informationen in einen Zusammenhang gebracht werden. Somit könnte die fortwährende Betonung von Bellas Schönheit, die dem Anschein nach für die Entwicklung der Unterhaltung relevant ist, als Zeichen der Verführung (zur Preisgabe des Geheimnisses) gelesen werden, womit die Beschreibung Anschlusspunkte bietet an die stereotype Darstellung junger, hübscher „Zigeunerfiguren“ als „femme fatale“, die ihre Schönheit instrumentalisieren, um daraus Vorteile zu erhalten.
Sasas Aussehen hingegen, der Cousine, die ihre Angehörigkeit zur Minderheit zu verschleiern versucht, wird nicht weiter beschrieben. Hier bildet sich eine auffällige Leerstelle: Sie ist eine der wenigen namentlich genannten Romnja des Buches, die nicht den stereotypen Darstellungen mit Ohrringen entsprechen. So baut das Buch auch in der äußerlichen Beschreibung der Figuren eine strikte Trennung zwischen dem Erscheinungsbild der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit auf, das durch die fehlende Beschreibung Sasas (im Gegensatz zu ihrer stilvollen Wohnung) den Eindruck erwecken kann, dass die (weiblichen) Angehörigen der Minderheit exotisierend beschrieben werden, so sie ihre Identität nicht verheimlichen wollen. Sasa wird im Buch lediglich als „elegant“ beschrieben, weitere Details jedoch werden nicht benannt. Einzig bei der Beschreibung einiger Urlaubsfotografien, die in der Wohnung ausgestellt sind, wird ihre Kleidung (Bademode, Umhang zum Studienabschluss) kurz thematisiert (Poetter 90-96).
Fazit
Bei der Arbeit mit dem Buch sollte, in Anlehnung an Michail Krausnicks Ausführungen (46), neben der Intention der Autorin auch die Wirkung auf den*die Leser*in und die Auswirkung der Darstellung für Sinti und Roma in den Blick genommen werden – werden Stereotype reproduziert oder vielmehr reflektiert, werden stereotype Erwartungen durchbrochen und überwunden? Zum vorliegenden Text lässt sich zusammenfassend festhalten, dass das Buch historische und bestehende Diskriminierung von Sinti und Roma benennt und die Mehrzahl der auftretenden Roma im Text als Individuen beschreibt. Als problematisch kann jedoch gelten, dass das Buch verschiedene etablierte „Zigeunermotiviken“, die durch die Kunst- und Kulturvorstellung der Mehrheitsgesellschaft geprägt wurden, ohne weitere Reflexion auf Roma-Figuren überträgt und damit als Bild von der Minderheit stützt. Dies scheint kein seltenes Phänomen in der Kinder- und Jugendliteratur zu sein, Kalkuhl und Tschäpe beschreiben die Problematik des Phänomens wie folgt: „Beide Pole des Bildes, romantische und negative Klischees, sind jedoch Teil der Festschreibung dessen, was wir als ‚Zigeuner‘ verstehen und häufig auf Sinti/Roma kritiklos übertragen – Antiziganismus bedeutet also nicht nur die offene, erklärt feindliche Ablehnung von Sinti/Roma. Auch vermeintlich positive Bilder sind Vorurteile, die die Minderheit auf eine Wahrnehmung reduziert, die sie nicht selbst steuern kann.“ (Kalkuhl/Tschäpe 117). Auch wird die Differenz zwischen dem kulturellen Konstrukt des „Zigeuners“, im Buch als „Z-Wort“ thematisiert, und der Identität als Roma nicht näher beleuchtet. Die Gefahr besteht, dass trotz des aufklärerischen Ansatzes bei der Leserschaft des Buches präsente „imaginierte Bilder […] unreflektiert aufgenommen [werden], unbewusst tradiert [werden] und […] weiterhin wirksam [bleiben]“ (Mihok 113). Umso entscheidender ist ein kritischer Umgang mit der Lektüre in der Vermittlungsarbeit, um diese gewohnten Darstellungen zu durchbrechen und die positiven Ansätze der Erzählung weiter zu verstärken.
Der Text entstand im Rahmen des Teilprojekts Antiziganismuskritische Filmanalyse, das Teil des Verbundprojekts „Mediale Antiziganismen – von der interdisziplinären Analyse zur kritischen Medienkompetenz“ (MeAviA) ist.
Über die Autorinnen
Sophie Schollenberger studiert Geschichte an der Universität Heidelberg und war von 2023 bis 2025 als Hilfskraft an der Forschungsstelle Antiziganismus tätig. Dort unterstützte sie das Verbundprojekt „Mediale Antiziganismen – von der interdisziplinären Analyse zur kritischen Medienkompetenz“ (MeAviA), insbesondere das Teilprojekt „Antiziganismuskritische Filmanalyse“.
Dr. Radmila Mladenova ist Literatur- und Filmwissenschaftlerin. Sie wurde zum Thema „Antiziganismus im Film“ promoviert und arbeitet für die Forschungsstelle Antiziganismus an der Universiät Heidelberg. Dort leitet sie meherere Projekte, unter anderem den Critical Film & Image Hub.
Quellen und Literatur
Bildnachweise
Abbildung 1: Hergé. Tim und Struppi. Die Juwelen der Sängerin. Original: Album von 1963, Erstpublikation in Zeitschrift „Tintin“ 1961-1962. Vorliegende Fassung: Hamburg 1999. S. 3.
Abbildung 2: Hergé. Tim und Struppi. Die Juwelen der Sängerin. Original: Album von 1963, Erstpublikation in Zeitschrift „Tintin“ 1961-1962. Vorliegende Fassung: Hamburg 1999. S. 42.
Abbildung 3: Still von Tim und Struppi. Die Juwelen der Sängerin. Reg. Stéphane Bernasconi. F/CA/BE/USA 1992. 00:23:54.
Abbildung 4: Still von Tim und Struppi. Die Juwelen der Sängerin. Reg. Stéphane Bernasconi. F/CA/BE/USA 1992. 00:23:55.
Abbildung 5: Hergé. Tim und Struppi. Die Juwelen der Sängerin. Original: Album von 1963, Erstpublikation in Zeitschrift „Tintin“ 1961-1962. Vorliegende Fassung: Hamburg 1999. S. 5.
Quellen
Beschreibung von Jukli auf der Seite des Verlags, abrufbar unter: https://www.magellanverlag.de/titel/jukli-oder-wie-ich-einen-kleinen-es… [zuletzt 27.12.2024]
Die Juwelen der Sängerin. Reg. Stéphane Bernasconi. FR/CA/BE/USA 1992. Die Zeitangaben beziehen sich auf die Ausgabe der Episoden, in der die beiden Teile zu einer Folge zusammengefasst wurden.
Hergé. Tim und Struppi. Die Juwelen der Sängerin. Hamburg 1999 (Originalalbum: Paris/Tournai 1963).
Poetter, Corinna C. Jukli oder wie ich einen kleinen Esel an der Backe hatte und nicht mehr loswurde. Bamberg 2022.
Literaturhinweise
Brittnacher, Hans R. Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst. Göttingen 2012.
Kalkuhl, Christina/Tschäpe, Nadja. „Zwischen Fiktion und Zeitgeschichte. Ein Werkstattbericht zur Kategorisierung von Zigeunerdarstellungen in der KJL“, in: Zigeunerbilder in der Kinder- und Jugendliteratur, hrsg. v. Anita Awosusi, Heidelberg 2000, S. 117-136.
Krausnick, Michail. „Das Bild der Sinti in der Kinder- und Jugendliteratur“, in: Zigeunerbilder in der Kinder- und Jugendliteratur, hrsg. v. Anita Awosusi, Heidelberg 2000, S. 31-46.
Mihok, Brigitte. „Wild, lockend und gefährlich. ‚Zigeunerin und Zigeuner‘ als populäre Klischees im Comic“, in: Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur (Positionen Perspektiven Diagnosen 5), hrsg. v. Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 97-116.

