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Forschung Forschungsprofil

Die Forschungsstelle Antiziganismus (FSA) vertritt ein weites Verständnis von Antiziganismusforschung und führt vielfältige Perspektiven auf das historisch gewachsene Phänomen des Antiziganismus wie auch verschiedene methodische Ansätze zusammen. Sie will Impulse für die weitere (Grundlagen-)Forschung geben und legt einen starken Akzent auf den gesellschaftlichen Transfer. 

An der FSA werden verschiedene interdisziplinäre Drittmittelprojekte bearbeitet ebenso wie klassische Einzelstudien, Dissertationen und studentische Abschlussarbeiten. Hier finden Sie einen Überblick über unsere vielfältigen Forschungsansätze und -themen.

Schreibtisch mit Kiste und mehreren Büchern, Zeitschriften, im Hintergrund eine Tastatur

Analysebenen und Themenbereiche

In analytischer Hinsicht lassen sich unterschiedliche Ebenen und Bereiche der Antiziganismusforschung skizzieren. Zu diesen zählen einerseits soziale und institutionelle Praktiken, politische Handlungsmuster und historische Rahmenbedingungen. Andererseits gilt es, die ideologischen Grundlagen des Antiziganismus, die Spezifik von dessen Vorurteilsstruktur und die komplexe Genese von „Zigeuner“-Stereotypen zu untersuchen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich im Besonderen auf die vielschichtigen miteinander verwobenen medialen Repräsentationen des Antiziganismus in der europäischen Kulturgeschichte, nicht zuletzt in der Populärkultur. Zudem sollen auch Emanzipations- und Empowermentstrategien von Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Institutionen – als Reaktion auf die Erfahrung von Antiziganismus – in den Blick genommen werden. Es versteht sich von selbst, dass diese unterschiedlichen (Analyse-)Ebenen in sozialen oder historischen Prozessen zusammenwirken und daher in ihrem inneren Zusammenhang betrachtet werden müssen. Das gilt insbesondere für das Wechselverhältnis zwischen antiziganistischen Diskursen und Praktiken. Das Paradigma des Antiziganismus kann mittels Vergleich und Kontextualisierung zur Forschung über Rassismus und Stereotype, zur Rolle von Nationalismus und kollektiver Identität, wie auch zu Migration sowie gesellschaftlicher Inklusion beitragen und so über ihren Gegenstand hinausweisen – hinein in die Geschichte und Gegenwart der europäischen Vielfaltsgesellschaften.

Historische Antiziganismusforschung

Aufgrund der Anbindung an das Historische Seminar sind die hauseigenen Forschungen in erster Linie historisch ausgerichtet. Die historische Antizianismusforschung richtet den Fokus auf die komplexen Tradierungslinien dieses Macht- und Gewaltphänomens und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Kontinuitäten sowie der Wandel antiziganistischer Repräsentationen, Denk- und Handlungsmuster werden über unterschiedliche Epochen hinweg untersucht, um den Mechanismen der antiziganistischen Vorurteilsbildung sowie den sich daraus ableitenden sozialen bzw. institutionellen Praktiken auf den Grund zu gehen. 

Zentral ist dabei die Frage nach den politischen, kulturellen oder ideologischen Funktionen des Antiziganismus in unterschiedlichen Kontexten. Besonderes Augenmerk liegt auf der dynamischen Wechselbeziehung von Fremd- und Selbstbild, also der Instrumentalisierung des Konstrukts „Zigeuner“ für – etwa nationale – Identitätskonzepte oder Ordnungsvorstellungen. Dabei geht es immer auch um die Erfahrungen der Menschen, die von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Verfolgung betroffen sind.

Unsere Forschungsthemen

Folgende thematische Schwerpunkte haben sich seit Gründung unserer Einrichtung herausgebildet:

  1. Visueller Antiziganismus (mit Schwerpunkt Film und Fotografie)

    Einen dezidiert interdisziplinären Zugang erfordern die vielschichtigen medialen Repräsentationen von Antiziganismus. Massenmedien tradieren und konservieren „Zigeuner“-Bilder über lange Zeiträume und prägen sie gleichsam in das kollektive Bewusstsein ein. Im 19. und 20. Jahrhundert kommt vor allem visuellen Medien entscheidende Bedeutung bei der Ausformung von „Zigeuner“-Stereotypen und deren gesellschaftlicher Verankerung zu. Angesichts der ungebrochenen Wirkmacht visueller Repräsentationen ist ein kritischer Umgang mit modernen Medien (u. a. Film, Fotografie, Comics und digitale Spiele) eine zentrale wissenschaftliche Aufgabe, auch hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der drohenden Erosion demokratischer Werte. Bei diesem Themenschwerpunkt ist der Transfergedanke zentral. In Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Medieneinrichtungen sollen Medien- und Filmschaffende dafür sensibilisiert werden, wie Rassismen durch etablierte Darstellungsmodi visueller Medien transportiert werden. Somit fließen in unsere Forschungen in diesem Bereich bereits Fragestellungen zur Aufklärung und Prävention mit ein.

  2. NS-Völkermord an den Sinti und Roma

    Zweifelsohne stellt der NS-Genozid den tiefsten und radikalsten Einschnitt in der Geschichte der Sinti und Roma dar. Auch wenn mittlerweile zur Verfolgungsgeschichte im Nationalsozialismus ein differenzierter Forschungsstand vorliegt, trägt die FSA der großen Bedeutung dieses Themenkomplexes dadurch Rechnung, indem sie vorhandene Lücken schließen und vor allem bislang weniger berücksichtigte Fragen zu den institutionellen Voraussetzungen und der europäischen Dimension des Genozids in den Blick nehmen will. So existieren bis heute weder ein großes Nachschlagewerk, das das Wissen zur Umsetzung des Völkermordes in Europa zusammenfasst, noch grundlegende Einzelmonografien zu den handlungsleitenden Institutionen „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ und „Rassenhygienische Forschungsstelle“, die das von Michael Zimmermann entwickelte Analysemodell des „wissenschaftlich-polizeilichen Komplexes“ empirisch fundieren und konzeptionell ausarbeiten.

  3. Kontinuitäten des Antiziganismus nach 1945

    Die staatlichen und gesellschaftlichen Akteure der jungen Bundesrepublik verband ein tief eingewurzelter Antiziganismus, der – im Gegensatz zum Antisemitismus – trotz demokratischen Neubeginns weiterhin handlungsleitend war. Die Überlebenden der Sinti und Roma waren als gesellschaftlich isolierte Minderheit der Deutungsmacht der vormaligen Täter und Täterinnen, die meist schnell in ihre beruflichen Positionen zurückfanden, ausgeliefert. Zentral für die Erforschung des Antiziganismus nach dem Völkermord ist die Frage, welchen Kontinuitäten, aber auch welchen Transformationen und Brüchen der Vorurteilskomplex beim Übergang von der Diktatur in eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft unterlag. Darüber hinaus ist danach zu fragen, welche Handlungsspielräume der neue rechtsstaatliche Rahmen und vor allem das Grundgesetz den Sinti und Roma eröffneten. Zudem sind politisch-soziale Wandlungsprozesse auf ihre Auswirkungen hinsichtlich des Antiziganismus zu erforschen. Wie vollzog sich der Wechsel von ordnungspolitischen Prämissen hin zu Fürsorge- oder Integrationskonzepten und später zur Anerkennungs- und Minderheitenpolitik? Welche „Zigeuner“-Diskurse waren für unterschiedliche Phasen in Politik, Behörden, Gesellschaft und Wissenschaft prägend?

  4. Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen

    Das an der FSA entwickelte breite Verständnis des Forschungskonzepts Antiziganismuskritik schließt auch die Versuche der Betroffenen, ihrer Stigmatisierung und Diskriminierung mittels widerständiger, aktivistischer oder emanzipatorischer Strategien zu begegnen, mit ein – nicht zuletzt, um zu verdeutlichen, welch komplexe Resilienz dem strukturellen Rassismus gegen Sinti und Roma innewohnt. Darüber hinaus wäre es eine einseitige Perspektive, Sinti und Roma nur als passive Objekte oder Opfer staatlicher Maßnahmen zu betrachten: eine Gefahr, die zweifelsohne von einer engen Konzeption der Antiziganismusforschung ausgeht. Eine wissenschaftlich umfassende Perspektive auf das Phänomen Antiziganismus muss das in wissenschaftlichen wie politischen Debatten immer wieder zutage tretende Spannungsfeld zwischen der funktionsanalytischen Fokussierung auf dominanzgesellschaftliche Vorurteilsstrukturen und Konstruktionsprozesse auf der einen Seite und der Auseinandersetzung mit den Diskriminierungserfahrungen der davon Betroffenen auf der anderen Seite berücksichtigen und versuchen, beide Ansätze zu verbinden. Darüber hinaus kann dieser Ansatz einen Teil deutscher und europäischer Demokratisierungsgeschichte sichtbar machen, der von der bisherigen Forschung kaum berücksichtigt wurde. 

  5. Antiziganismus in der Populärkultur
     

Kritik und Selbstreflexion

Das Forschungsthema erfordert eine selbstreflexive und kritische Perspektive, die in der Lage ist, auch eigene Positionen immer wieder in Frage zu stellen und zu diskutieren – insbesondere mit den von Antiziganismus Betroffenen und ihren Selbstorganisationen. Nicht zuletzt dadurch grenzt sich die Antiziganismusforschung deutlich ab von den essenzialisierenden und ahistorischen Deutungsmustern der traditionellen „Zigeunerforschung“ bzw. Tsiganologie und sieht es auch als ihre Aufgabe an, den Beitrag der Wissenschaft zur Verfolgung und Diskriminierung von Sinti und Roma kritisch aufzuarbeiten und die Teilhabe von Sinti und Roma im Wissenschaftsbetrieb zu fördern.