Teilprojekt in DFG-Forschungsgruppe Transformationen des polizeilichen antiziganistischen Diskurses:
vom „rassischen“ Paradigma zur genozidalen Praxis (1850-1950)
Das Forschungsprojekt ist Teil der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe Antiziganismus und Ambivalenz in Europa (1850–1950).

Zusammenfassung
Das Teilprojekt soll grundlegende neue Erkenntnisse über den Transformationsprozess von einem primär soziografischen Zigeuner-Verständnis hin zu einem "rassenbiologischen" Begriff zwischen 1850 und 1950 liefern und Verschränkungen von Antiziganismus, Antisemitismus und Kolonialrassismus herausarbeiten.
Erstmals soll das transnationale Diskurs- bzw. Korrespondenznetzwerk, das Wissen über Sinti*zze und Rom*nja produzierte, in seiner von vielfältigen Verflechtungen geprägten Genese dargestellt werden. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf Kriminologie und Medizin; auch geschlechtergeschichtliche Zugänge werden berücksichtigt.
Das Projekt wird Aufschluss über die Agency von Angehörigen der Minderheit geben und Formen ihrer Selbstbehauptung offenlegen – eine Perspektive, die in der historischen Antiziganismusforschung bislang wenig Beachtung fand.

Forschungsfragen
- Welche Rolle spielte die Wissenschaft bei der rassistischen Wissensproduktion über Sinti*zze und Rom*nja? Inwiefern lassen sich Verknüpfungen zu anderen Diskurssträngen wie der Populärkultur ausmachen? Was waren die Folgen für die Praxis der staatlichen Verfolgung?
- Wie vollzog sich der transnationale Transfer von Wissen, Personen und Praktiken? Was war seine Bedeutung für den NS-Völkermord an Sinti*zze und Rom*nja in Europa?
- Welche wechselseitigen Bezüge zwischen Selbstentwürfen der Mehrheitsgesellschaft, Antiziganismus und anderen Othering-Diskursen (Antisemitismus, Kolonialrassismus) lassen sich empirisch feststellen? Inwieweit wirkten Fremdrepräsentationen auf Selbstartikulationen zurück?

Untersuchungsräume
Kernuntersuchungsraum: Deutsches Reich
Zusatzraum: Österreich, Elsass, Protektorat Böhmen und Mähren
Ziele
ZIEL 1 – Archivalische Bestandsaufnahme und Analyse des wissenschaftlichen Diskurses (insbesondere Kriminologie und Eugenik) sowie der gegen Zigeuner gerichteten behördlichen Maßnahmen in Abgrenzung und Verschränkung zu anderen Othering-Diskursen (Antisemitismus, Kolonialrassismus).
ZIEL 2 - Rekonstruktion derDefinition von Zigeunern im NS-Staat und der daraus resultierenden Exklusions-, Selektions- und Deportationspraxen im Deutschen Reich und dessen Grenzräumen.
ZIEL 3 - Eruierung der sozio-ökonomischen Situation von Sinti*zze und Rom*nja abseits der Stereotype.
Zur DFG-Forschungsgruppe
Die Forschungsgruppe analysiert die Verflechtungsgeschichte der Fremdrepräsentationen und Selbstartikulationen, die in Europa zwischen 1850 und 1950 einerseits zur Inklusion und Emanzipation sowie andererseits zur Exklusion und Elimination von Sinti*zze und Rom*nja beigetragen haben.
Dieses Ziel wird durch die Dekonstruktion antiziganistischer Stereotype in Kunst, Staat und Wissenschaft sowie durch die Rekonstruktion der Agency von Sinti*zze und Rom*nja erreicht. Gemeinsam werden Transfers, Synchronien und Asynchronien zwischen europäischen Räumen von Spanien über Deutschland bis Rumänien untersucht.
Die Ergebnisse der Forschungsgruppe werden über eine multimodale Datenbank (zugleich Forschungsumgebung) integriert, die der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf Dauer zur Verfügung steht.