Über uns Geschichte der Forschungsstelle Antiziganismus
Das Phänomen Antiziganismus hat bis heute einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung und gesellschaftliche Lage der größten und am stärksten marginalisierten Minderheitengruppen Europas, der Sinti und Roma. Deshalb kommt der Erforschung dieser besonderen Form von Rassismus eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz zu.
Nach einer langen Periode des akademischen Schattendaseins hat die Antiziganismusforschung in den letzten zehn Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Ein sichtbares Ergebnis dieser Entwicklung ist die Etablierung der Forschungsstelle Antiziganismus (FSA) im Juli 2017 am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Als erste Facheinrichtung ihrer Art beschäftigt sie sich mit grundlegenden Studien zu Ursachen, Formen und Folgen des Antiziganismus in den europäischen Gesellschaften vom Mittelalter bis in die Gegenwart.

Zum 1. Januar 2023 übernahm Prof. Dr. Tanja Penter, Inhaberin der Professur für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg die Wissenschaftliche Leitung der FSA.
Evaluation und fünfjähriges Bestehen
Im Juli 2022 richtete der Rektor der Universität Heidelberg einen akademischen Festakt anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Forschungsstelle aus. Grußworte und Ansprachen hielten Prof. Dr. Bernhard Eitel, Rektor der Universität Heidelberg, die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma Romani Rose, Daniel Strauß, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, der FSA-Geschäftsführer Dr. Frank Reuter, die Leiterin des FSA-Enzyklopädie-Projekts Dr. Karola Fings sowie Dr. Maria Bogdan, die erste Stipendiatin des Romani Rose-Fellowships. Der Abend wurde von Ferenc Snétberger an der Gitarre und Benjamin Urbán am Flügel musikalisch begleitet.

Im Frühjahr 2022 durchlief die FSA ein Evaluationsverfahren. In dessen Rahmen fand am 25. Mai eine Begehung und Befragung durch die Evaluationskomission in Anwesenheit der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg, Theresia Bauer, und des Rektors der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Eitel, statt. Der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus, Dr. Michael Blume, richtete zu diesem Anlass ein Grußwort an die Anwesenden.
Wir brauchen die Forschungsstelle in Baden-Württemberg, um historisch der Entrechteten und Ermordeten zu gedenken. Wir brauchen sie aber vor allem auch, um heutige und künftige Generationen im besten Sinne zu bilden, um sie vor der Gewalt der Ausgrenzung und des Verschwörungsglaubens zu schützen.
Statement von Dr. Michael Blume (Antisemitismusbeauftragter der baden-württembergischen Landesregierung) anlässlich der Begehung der FSA am 25. Mai 2022
In ihrem abschließenden Gesamtvotum vom 27. Mai 2022 empfahlen die sechs Gutachterinnen und Gutachter unter dem Vorsitz des Bielefelder Literaturwissenschaftlers Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal einstimmig „die weitere Förderung der Forschungsstelle Antiziganismus ohne jeglichen Vorbehalt und mit Nachdruck“. Sie sei ihren Pionieraufgaben „auf hervorragende Weise nachgekommen“.
Unabhängige Kommission Atiziganismus
Im Frühjahr 2019 berief Bundesinnenminister Horst Seehofer den wissenschaftlichen Geschäftsführer der FSA, Dr. Frank Reuter, und die spätere Projektleiterin Dr. Karola Fings als Mitglieder der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA). Es handelt sich um die erste Regierungskommission mit dieser inhaltlichen Ausrichtung in der Geschichte der Bundesrepublik. Dem Gremium gehörten elf Personen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft an, die sich in interdisziplinärer Perspektive mit Antiziganismus befassen. Der über 600 Seiten umfassende Abschlussbericht der UKA, der sich auf 15 aktuelle wissenschaftliche Studien stützt, wurde der Bundesregierung im Mai 2021 übergeben. Der Bericht stuft Antiziganismus als ein massives gesamtgesellschaftliches Problem und als allumfassende Alltagserfahrung von Sinti und Roma ein. Die Kommission fordert eine umfassende Strategie gegen Antiziganismus und einen grundlegenden Perspektivwechsel in der deutschen Gesellschaft, der die strukturellen Ursachen des Problems in den Blick nimmt. Die zahlreichen darin enthaltenen Handlungsempfehlungen verweisen auf diverse Forschungsdesiderata und verdeutlichen den Bedarf einer umfangreichen wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte und Gegenwart des Antiziganismus.
Am 14. Dezember 2023 hat der Deutsche Bundestag in einer 40minütigen Debatte die Handlungsempfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus beraten und mit breiter Mehrheit dazu eine überfraktionelle Entschließung (BT-DS 20/9779) mit 27 konkreten Empfehlungen angenommen. In der Entschließung wird auf die Forschungsstelle Antiziganismus ausdrücklich Bezug genommen. Unter Punkt 13 fordert der Bundestag die Bundesregierung dazu auf,
„sich den im Bericht der UKA aufgezeigten Forschungsdesiderata durch einen entsprechenden Ausbau der Forschungsförderung anzunehmen, und langfristige Forschungsvorhaben zu fördern, die sich gezielt sowohl mit der historischen Entwicklung als auch den gegenwartsbezogenen Formen des Antiziganismus befassen; einen Schwerpunkt sollen praxisbezogene Forschungsvorhaben bilden; zudem sollte sich der Bund dafür einsetzen, die „Forschungsstelle Antiziganismus“ an der Universität Heidelberg zu einem „Zentrum für Antiziganismusforschung“ auszubauen und eine Förderung prüfen“ (Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, Drucksache 20/9779, Seite 6).
Einwerbung von Drittmittelprojekten
Seit Februar 2024: Teilprojekt „Transformationen des polizeilichen antiziganistischen Diskurses: vom „rassischen“ Paradigma zur genozidalen Praxis (1850-1950)“ im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Antiziganismus und Ambivalenz in Europa (1850–1950)“; Sprecherin: Prof. Dr. Iulia-Karin Patrut (Europa-Universität Flensburg).
Seit Oktober 2023: Forschungsprojekt „Antigypsyism and Minority Subjectivity in German Popular Culture: Football, Hip-Hop, Carnival“, gefördert von der Alfred Landecker Stiftung.
Ab Oktober 2022: Teilprojekt „Antiziganismuskritische Filmanalyse“ im Forschungsverbund „Mediale Antiziganismen – Von der interdisziplinären Analyse zur kritischen Medienkompetenz“ (Heidelberg School of Education/Universität Heidelberg/Pädagogische Hochschule Heidelberg), gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Seit Juli 2020: Internationales Forschungs- und Publikationsprojekt „Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa“, gefördert vom Auswärtigen Amt
2020 – 2022: Forschungsprojekt „Artistic Alternatives to the Antigypsy Gaze“, gefördert vom Field of Focus 3 der Universität Heidelberg.
Seit 2019: „Romani Rose-Fellowship“, gefördert von der Manfred Lautenschläger-Stiftung.
Seit 2018: Teilprojekt „Kontinuitäten des Antiziganismus in Baden-Württemberg nach 1945“ im Rahmen des Verbundforschungsprojekts „Reintegration, Schuldzuweisung und Entschädigung – Bewältigung und Nicht-Bewältigung der NS-Vergangenheit in den drei Vorgängerländern Baden-Württembergs 1945-1952“, gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung.
2018 – 2019: Forschungsprojekt „Stigma ‚Zigeuner‘. Visuelle Dimensionen des Antiziganismus“, gefördert vom Field of Focus 3 der Universität Heidelberg.
Zum 1. Januar 2018 übernahm Dr. Frank Reuter die Geschäftsführung der Forschungsstelle.
Einrichtung und Eröffnung

Mit der Förderung der Forschungsstelle Antiziganismus setzen wir ein Zeichen – gegen das Schweigen, für die Aufklärung. Damit wird das Land auch seiner historischen Verpflichtung den Sinti und Roma gegenüber gerecht
Theresia Bauer, baden-württembergische Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst (2011-2022)
Die feierliche Eröffnung der Forschungsstelle Antiziganismus fand am 28.7.2017 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften statt. An der Veranstaltung, zu der der Rektor der Ruperto Carola, Prof. Dr. Bernhard Eitel, eingeladen hatte, nahmen die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, Daniel Strauß, und der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, teil. Im Anschluss wurden die Gäste in den neuen Räumlichkeiten der Forschungsstelle Antiziganismus – Hauptstraße 216 – empfangen.
Seit 2017 finanziert das Land Baden-Württemberg die neue Forschungseinrichtung aus Mitteln des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums.
Der Senat der Universität Heidelberg hat in seiner Sitzung am 25.10.2016 gemäß § 19 Abs. 1 Ziff. 7 und 10 LHG die Einrichtung der Forschungsstelle sowie deren Statut beschlossen, das am 22.12.2016 im Mitteilungsblatt des Rektors veröffentlicht wurde. Damit wurde die Forschungsstelle am Historischen Seminar der Universität Heidelberg eingerichtet. Nach einer Wahl durch das Direktorium des Historischen Seminars wurde Prof. Dr. Edgar Wolfrum vom Rektor der Universität Heidelberg zum Wissenschaftlichen Leiter der Forschungsstelle bestellt. Der damalige Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte hatte das Konzept für die Forschungsstelle mit Mitarbeiterinnen des Arbeitsbereichs Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa erarbeitet.
Statut der Forschungsstelle im Mitteilungsblatt des Rektors, Nr. 16/2016, S. 1099
Laut Statut (§ 1, 2) hat die FSA insbesondere die Aufgaben,
- wissenschaftliche Grundlagenforschung zu Ursachen, Formen und Folgen des Antiziganismus in den europäischen Gesellschaften vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu betreiben,
- Diskriminierungsmechanismen theoriegeleitet und bevorzugt vergleichend sowohl auf lokaler, regionaler, nationaler wie auch auf transnationaler Ebene zu untersuchen,
- und interdisziplinäre Forschungen in den Kontext der Rassismus-, Stereotypen-, Gewalt- und Inklusionsforschung zu stellen.
Darüber hinaus soll die Forschungsstelle ihre Erkenntnisse grundsätzlich der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit, der praxisorientierten Forschung sowie der handlungsorientierten Präventionsarbeit zur Verfügung stellen (§ 1, 3).
Vorarbeiten und Staatsvertrag
Bereits seit 2013 hat die Manfred Lautenschläger-Stiftung zentrale, thematisch verwandte Forschungsarbeiten am Lehrstuhl für Zeitgeschichte gefördert, aus denen die FSA hervorging. Der mit einer dreijährigen Anschubfinanzierung geförderte Arbeitsbereich Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa erforschte das Verhältnis von Minderheiten in Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft aus historischer Perspektive mit einem Schwerpunkt auf Antiziganismusforschung.
Grundlage für die Einrichtung der Forschungsstelle Antiziganismus ist der Staatsvertrag zwischen dem Verband der Sinti und Roma Landesverband Baden-Württemberg (VDSR) und dem Land Baden-Württemberg. Dieser wurde am 28. November 2013 abgeschlossen. Der Landtag hat diesem Vertrag mit Gesetzesbeschluss 18. Dezember 2013 zugestimmt (GBl. 2013 481). Nach Artikel 2 Absatz 2 des Staatsvertrags „streben das Land und der VDSR-BW gemeinsam insbesondere die Errichtung einer Forschungsstelle […] zum Antiziganismus an. Der kritischen Aufarbeitung der historisch von rassistischen Vorurteilen geprägten Geschichte der sogenannten ‚Zigeunerforschung‘ ist dabei besonders Rechnung zu tragen.“